Mary Ann

Wenn ihr ein wenig Zeit habt, dann ist hier eine ausführlichere Fallgeschichte die zeigt, warum Medizin in Nangina häufig sehr schwierig ist.

Mary Ann ist 7 Jahre alt und war während der letzen vier Wochen bei uns auf der Kinderstation.
Da unser kenianischer Kollege die Präsenzarbeitszeiten sehr flexibel gestaltet und eher eine 7-10 Stundenwoche hat, habe ich in den letzten Wochen auch die Kinderstation betreut.

Mary Ann wurde bewusstlos aus einem der umliegenden Krankenhäuser zu uns verlegt. Die Vorgeschichte war spärlich. Einen Verlegungsbericht gab es nicht, aber aus dem Bericht der Oma und dem Ambulanzheft konnte man schließen, dass sie positiv auf Malaria und HIV gestestet worden war und bei Verdacht auf Cerebrale Malaria zu uns geschickt wurde.

So weit noch nichts ungewöhnliches – dass die Malaria auch das Gehirn betrifft und zu einem Anschwellen des Gehirns (durch Wassereinlagerungen) mit Bewusstseinsverlust und Krampfanfällen führt, ist Alltagsgeschäft.

Leider wurde Mary Ann aber nicht wach. Auch eine “Rückenmarkspunktion” zu Beginn des Aufenthaltes bei uns war unauffällig, keine Hirnhautentzündung.
Mittlerweile war die erste Woche bei uns ‚rum und die Eltern noch immer nicht in Erscheinung getreten. Die Oma mütterlicherseits spricht nur wenig Kiswahili, kein Englisch sondern nur Kisamya – die lokale Sprache.
Über die Tage ließ sich dann zumindest so viel erfahren, dass die Mutter sich von ihrem Ehemann getrennt hat und sich die Oma allein um Mary Ann kümmert.

Wie hier üblich, wurde auch Mary Ann sehr breit mit Antibiotika behandelt (bei Malaria haben ungefähr 10% der Kinder eine begleitende bakterielle Infektion), aber das Fieber ging nicht runter und sie wurde auch nicht wach.
Mit der Oma hatte ich mittles Übersetzer schon mehrmals eine Verlegung in ein größeres Krankenhaus mit Kinderarzt und, falls finanziell möglich, auch einer CT des Kopfes (kostet hier ca. 80 Euro) besprochen, doch allein wollte Mary Anns Großmutter keine Entscheidung treffen.
Mary Ann wurde unterdessen mittels Magensonde ernährt – diese einfachen Plastikschläuche sind ein echter Segen – und das Fieber ging trotz Antibiotika nicht weg. Die Worte meines Oberarztes aus Greven im Ohr, dass manchmal “Polypragmasie” das probate Mittel ist, wurde die Therapie dann weiter ausgeweitet:
Wenn das Gehirn in Mitleidenschaft gezogen ist, z.B. durch einen Schlaganfall oder nach einem Unfall, oder eben weil der Druck im Kopf zu hoch ist, kommt es häufig auch zu hohem Fieber, ohne dass eine Infektion vorliegt. Mit dieser Idee im Kopf und da plötzlich auch der Urin beinahe wasserklar wurde und die Ausscheidung deutlich zunahm, wurde Mary Ann dann ebenfalls auf ein Hirnödem behandelt.
Mit einem CT Befund und einem Neurochirurgen kann man das in Deutschland sehr gut machen, hier ist es deutlich schwieriger. Ohne die finanziellen Mittel um das Kind zu verlegen und da die Lumbalpunktion leider keine Besserung brachte (manchmal kann man einfach über den Rückenmarkskanal einen Teil des Nervenwassers ablassen und die Patienten werden wieder wach, hören auf zu krampfen und zu erbrechen – funktioniert bei vielen erwachsenen Patienten) mussten wir Mary Ann mit den vorhandenen Medikamenten gegen erhöhten Hirndruck behandeln.
Das Fieber ging zurück und nach einigen Tagen war auch der Urin wieder normal gefärbt, aber unsere Patientin wurde nicht wach. Ob die Therapie also richtig war oder nicht – ich weiß es nicht.

Mittlerweile war Mary Ann 10 Tage bei uns und die Therapie hatte bisher keinen Durchbruch gebracht. Dann tauchte die Mutter auf. Auch ihr habe ich die bisherige Therapie, den aktuellen Stand und eine Verlegung in ein größeres Krankenhaus erklärt und sie willigte ein, sie müsse sich nur noch um das Finanzielle kümmern.
Mary Ann ist nicht krankenversichert. Die öffentliche Versicherung kostet in Kenia 1,40 Euro im Monat und gilt dann für die gesamte Familie. Dass Patienten länger im Krankenhaus bleiben und sich die Entlassung oder die Verlegung verschiebt, weil die Familie erst das Geld zusammenbekommen muß ist auch ein alltägliches Problem.
So weit also nichts Ungewöhnliches.
Über verschiedene Krankenschwestern war zu erfahren, dass Mary Anns Mutter ebenfalls HIV positiv ist, alleine in Mombasa lebt und sich vom Vater getrennt hatte. Dieser sei jetzt in Kakamega (einer Stadt ca. zwei Stunden von hier) dabei, das Geld für die Verlegung zu organisieren. Die Mutter tauchte nie wieder auf. Dann verschwand für mehrere Tage auch die Oma.
Schließlich trat die Oma väterlicherseits in Erscheinung. Modern gekleidet und in bestem Englisch erkundigte sie sich nach dem Stand der Dinge – die Hoffnung, dass sie sich jetzt um ihre Enkelin kümmere, blieb leider unerfüllt.
Immerhin kehrte die andere Großmutter wieder zurück. Bezüglich Verlegung und weiterer Therapie herrschte Funkstille – man bespreche sich in der Familie.

Erst Morris, ein älterer Pfleger der auch den lokalen Dialekt spricht und nicht weit von Nangina aufgewachsen ist konnte ein wenig Licht ins Dunkel bringen:
Mary Anns Mutter hatte nach dem Besuch im Krankenhaus einen Krampfanfall erlitten und war ebenfalls eine Zeit lang bewusstlos gewesen. Das habe die Großmutter in der Annahme bestätigt, dass Mary Ann eigentlich verhext worden sei. Der Fluch habe sich durch den Krankenbesuch auf die Mutter übertragen und jetzt müsse man so lange beten, bis der Fluch gebrochen wäre. Daher war Mary Anns Mutter nie wieder im Krankenhaus erschienen. Auch das von außen betrachtet fehlende Interesse an einer Verlegung war nun erklärbar – die Familie hatte beschlossen, dass Mary Anns Zustand Folge eines Fluches sei und dieser könne nur durch ausdauerndes Beten gebrochen werden.

Am letzen Wochenende hatten wir frei und Mary Ann wurde von unserem Kollegen nach Hause entlassen. Die Mutter des Vaters bezahlte die Krankenhausrechnung und Mary Ann wurde mit nach Hause genommen. Immerhin wollte man sich darum bemühen, dass die Magensonde regelmäßig erneuert wird und eine Krankenschwester aus der Nachbarschaft Mary Ann mitbetreue.

Dieser Beitrag wurde unter Krankenhaus, Pädiatrie veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.